Ein kosmisches Experiment


 

Ein liebeskranker Spaziergang durch Gelsum

Es roch nach Altöl, kaltem Zigarettenrauch und der Art von Gier in menschenverschlingenden Gassen, die sich nie sattfrisst. Mustapha Muller trat aus der U-Bahn-Station „Gelsum-Mitte“ ins fahle Licht des späten Nachmittags. Die Dämmerung kam früh in dieser Jahreszeit, besonders in Städten wie dieser, wo selbst die Sonne nur widerwillig zu verweilen schien – als schämte sie sich, auf so etwas wie Gelsum, mit all den zerbrochenen Träumen seiner Bewohner und dem Gestank der Hoffnungslosigkeit herabzublicken.

Der korpulente Mittdreißiger zupfte an seinem billigen Hemd, das unter dem vom Winde verwehten Konfektionsanzug mit dem Charme eines alten Cheeseburgers klebte, und hustete in den schmutzigen Kragen seiner Gewandung hinein. Der Abend war feucht, aber nicht frisch. Eher so muffig, wie die dreckige, alte Stadt. Wie ein Laken, das zu lange über dem alten Leichnam Gelsums gedeckt war.

Sein gefühlt 20000-stes, erfolgloses Date war vor einer halben Stunde geendet – abrupt, wenn auch mit einer arroganten Höflichkeit, dessen intellektuelle Dimension Mustapha nicht zu fassen vermochte. Die beeindruckende Dame, eine gewisse Kim irgendwas, hatte ihn nach dreizehn Minuten und einem verwässerten Cappuccino mit einem Lächeln betrachtet, das wie ein Seziermesser wirkte. Dann hatte die Personalmanagerin ihm ihre Analyse präsentiert, als wäre er ein schlecht geschriebener Klappentext: „Du wirkst, als wärst du in einem ständigen inneren Bewerbungsgespräch, aber leider nicht gut vorbereitet. Außerdem besitzt Du durchaus den Charme eines Troglodyten und ich bezweifle arg, dass Dein Bildungsniveau an das eines Cro-Magnon herankommt.“ Der abgewiesene Galan wusste zwar mit den Begriffen Cro-Magnon und Troglodyt nichts anzufangen, nahm aber an, dass es sich dabei nicht gerade um Komplimente handeln dürfte.

Gott, was erwarteten eigentlich diese Chicks? Einen Schönling, der außerdem vermögend und gebildet war? Was hatten nur all diese heiß aussehenden Hochschulabsolventinnen für überzogene Erwartungen!

In solch tiefsinnigen Selbstreflektionen versunken, war der wenig Adonis gleiche und noch weniger mit seiner unsportlichen Statur Herakles ähnelnde Denker stehengeblieben, direkt vor einem verrammelten Asia-Imbiss, dessen Schild nur noch „DONG WOK“ in kläglich flackernden Buchstaben versprach. Eine Taube mit nur einem Bein hüpfte durch einen fettigen Fleck auf dem Pflaster. Er sah sie an, als könnte sie ihm antworten. Ebenso wenig, wie die von ihm begehrte Weiblichkeit, erhörte das Tier den einsamen Spaziergänger.

Unangenehm berührt, dachte unser einsamer Wolf – okay, hinsichtlich des animalischen Vergleichs wäre da ein Dackel wohl angebrachter – an seine wenig fordernde Tätigkeit. Mustapha arbeitete beim Amt für Aktenstandardisierung, 4. Etage, Westflügel. Sein eigentlicher Titel lautete „Sachbearbeiter für Dokumentationsvalidierung“. Er wusste nicht, was das genau bedeutete, aber niemand in seinem Kollegenkreis wusste diese Berufsbezeichnung im wörtlichen Sinne zu deuten. Wahrscheinlich war es auch besser so, wie Onkel Cethegus es so trefflich bemerkte, denn es sei für äußerst mäßig begabte Verwandte nicht gut, wenn sie zu viel wüssten.  Widerwillig beschaffte der Oberregierungsrat dem eher ungeliebten Neffen einer seiner Meinung nach passenden Posten, da er einen ausgeprägten Familiensinn besaß.

Mustaphas Aufgabe bestand im Wesentlichen darin, eingescannte Formulare auf Lesbarkeit zu prüfen und bei Bedarf eine Notiz an die Abteilung für Neudigitalisierung zu senden. Manchmal tippte er „unleserlich“ in ein Feld.

Sein Chef, Herr Bully, war ein fleischgewordener Brüllreflex mit der Frisur eines misslungenen Feldherrn und dem Temperament eines elektrischen Stuhls. Die intellektuell seinen Mitarbeitern keineswegs überlegen Führungskraft sprach selten normal – er bellte eher wie der Hund von Baskerville. In den völlig sinnbefreiten Meetings wirkte er wie ein römischer Centurio unter Drogen, der gerade die Kreuzigung von drei falsch gestapelten Ordnern anordnet. Mustapha lachte über ihn. Heimlich. In seiner WhatsApp-Gruppe „Die Unbeugsamen“, in der vier weitere namenlose Verwaltungszombies ihre Unterwürfigkeit mit aus Feigheit geborenem Sarkasmus salbten.

Doch in Gegenwart des geistlosen Tyrannen nickte Mustapha eifrig, orchestriert von servilen Bemerkungen, die dem Lieblingssklaven Neros alle Ehre gemacht hätten. Leider erzeugte das einen unerwünschten Konditionierungseffekt, denn der WhatsApp-Unbeugsame entwickelte ein merkwürdiges Zucken im Nacken, das er selbst nicht mehr zu kontrollieren vermochte.

Jetzt ging er weiter. Die Straße hieß „Adlerstraße“, obwohl hier kein Vogel außer dem Pleitegeier mehr flog. Nur Plastiktüten, zerrissene Wahlplakate und Geister aus der Zeit, als Kohle und Stahl noch den Herzschlag einer inzwischen schon hirntoten Stadt bedeuteten. Heute war Gelsum nur noch der faulige Zahn in einem vergessenen Mundwinkel des Landes.

Der Wanderer durch eine vergessene Welt sah in schmutzige Schaufenster, die längst keine Auslagen mehr boten. Stattdessen: Zerrissene Pappkartons, vom Atem des Verfalls beschlagene Scheiben, Graffiti mit Sprüchen wie „Wenn Gott existiert, wohnt er nicht hier.“ Oder „Welcome to inferno, the hell is freezing over!“

Ein junger Mann. gekleidet im Urban-Underdog-Style, auf einem E-Scooter kreuzte seinen Weg, rief etwas Unverständliches, das Mustapha, geprägt von der Paranoia seiner Kleinstbürgermentalität als Beleidigung deutete. Vielleicht war es das gar nicht. Vielleicht war es nur ein Laut, geboren aus einer dissoziativ gestörten Gesellschaft, die nicht mehr sprach, sondern ihren Auswurf krächzte.

„Scheiß Tinder“, murmelte Mustapha. Er dachte an Kim, an ihr kluges, kaltes Lächeln. Und dann an Sandy vom Copyshop – nett, ehrlich, tolerant, ein bisschen zu laut, aber an ihm interessiert. Er hatte sie ignoriert, weil sie „nicht passte“. Weil er glaubte, er hätte Anspruch auf mehr.  Sein ausgeprägter Narzissmus in Kombination mit einem spießig durchschnittlichen Verstand ließ ihn nicht realisieren, dass auch diese Verehrerin weit über seiner Liga spielte und vermutlich mit ihrer unvoreingenommenen Art eine bessere Partnerin für ihn darstellte, als so manch bourgeoise Karrierefrau.

Unser verhinderter Loverboy zog die Schultern hoch und schritt tiefer in die Stadt, deren Herz schon lange keinen Rhythmus mehr hatte. Über ihm surrten Neonlichter, die bald erlöschen würden. Unter ihm: Der Schatten eines Mannes, der keiner war.

Gentleman’s Agreement

Die Nacht hatte sich wie ein nasser Sack über Gelsum gelegt, schwer und stinkend. Die Straßenlaternen summten müde, als litten sie an einer Form von elektrischer Depression.

Mustapha schritt durch die Hohenzollernallee, die mit ihren gesplitterten Bushaltestellen und aufgebockten Einkaufswagen wenig aristokratisch aussah und eher wie ein gescheitertes Kunstprojekt wirkte. Er hatte die Hände tief in den Taschen und suchte mit der moralinsauren Attitüde des Kleinbürgers – wie so oft – nach selbstgerechter Empörung in Zigarettenkippen, heruntergefallenen Hotdog-Verpackungen und den scheuen Blicken der Obdachlosen, deren blanke Existenz der Beamte in stupid faschistischer Manier als Fanal menschlicher Trägheit betrachtete.

„Aha… wen haben wir denn da? Ein einsamer Wanderer in finsterer Nacht! “
Die Stimme war geschliffen, seidenweich, mit einem Hauch von Theaterbühne und Irrenhausflur. Der große Moralphilosoph blieb stehen, jäh aus seinen wenig menschenfreundlichen Gedanken gerissen. Die Luft roch plötzlich süßer – wie billiges Aftershave über Fäulnis. Aus dem Schatten einer ehemaligen Sparkassen-Filiale trat ein Mann, groß, dünn, elegant wie eine formvollendete Tarantel in seinem Designeranzug, der Mustaphas billiger Konfektionsware einen gewissen Touch der Lächerlichkeit verlieh.

„Guten Abend, mein Lieber. Welch ein glücklicher Zufall, dass Sie in dieser gefährlichen Gegend auf zwei wohlmeinende Bürger stoßen. Jack de la Neif oder auch 'Gentleman Jack‘, zu Ihren Diensten.“

Jack the Knife verbeugte sich leicht, zog imaginär seinen Hut und deutete mit einer spöttischen Geste auf seinen Begleiter.

„Und dies hier – mit freundlicher Genehmigung der Naturgewalt – ist mein geschätzter Kollege: Ali Butchinski. Ein wahrer Virtuose brachialer Überredungskunst, der das Messer mit chirurgischer Präzision zu führen weiß!“

Ali, in Fachkreisen auch die ‚Ratte‘ genannt, da er gerne gegen ein geringes Entgelt kleinkriminelle Berufsgenossen an die korrupten Ordnungsbehörden verriet, war ein massiger Fleischblock in Jogginghose. Der auskunftsfreudige Oger kratzte sich am rasierten Schädel, rülpste lautstark und ließ die Knöchel seiner Pranken knacken. Seine aus-druckslosen Augen blickten Mustapha an, als wäre der biedere Beamte lediglich ein Stück Schlachtvieh.

„Was… was wollen Sie?“ Mustapha tastete bereits nervös nach dem Portemonnaie in seiner Jackentasche, obwohl es seinem kleinbürgerlichen Weltbild widersprach, dass ein schnöder Straßenräuber so edel wie ein Investmentbanker gekleidet war, obwohl die es ja auch ausgezeichnet verstanden, bei einem Nullsummenspiel mit den Kunden einen prächtigen Gewinn zu machen.

„Ah! Welch höfliche Anrede und lediglich um die eigene Brieftasche besorgt! Man merkt gleich, Sie sind vom Fach, sozusagen auch in der Umverteilungsbranche. Darf ich raten: überbezahlter Verwaltungsbeamter?“

Jack lächelte so freundlich wie ein Löwe beim Anblick einer geh-behinderten Antilope, sodass es Mustapha diverse Schauer über den Rücken jagte.

„Wir sind übrigens auf Streife – nennen wir’s Bürgerdienst. In einer Stadt wie Gelsum ist es wichtig, dass jeder seinen Beitrag leistet. Vor allem, in einer so üblen Gegend, wo böse Menschen spazierenden Staatsdienern sehr schlimme Dinge antun können. Nicht wahr, Ali?“

„Geb mal, was du hast, du Opfer.“

Der Oger trat einen halben Schritt näher, während der Asphalt unter ihm förmlich zu seufzen schien.

„Jetzt nicht so uncharmant, mein Großer“, bemerkte der Gentleman der besonderen Art schelmisch. „Ich bin sicher, unser emsiger Staatsdiener spendet gerne eine ansehnliche Summe für den guten Zweck!“

„Ich… hab nicht viel dabei…“, begann Mustapha im Zustand angsterfüllter Verwirrung, aber freundliche Spendeneintreiber machte eine beruhigende Geste.

„Ach, mein Freund. Es geht doch nicht um viel. Es geht ums Prinzip. Um... Beteiligung am sozialen Miteinander.“

Jack griff behutsam nach Mustaphas Brusttasche und zog das Handy hervor – ein älteres Modell, das schon bessere Zeiten gesehen hatte. Er betrachtete es wie ein Weinkenner eine billige Discountermarke.
„Hm. Ein Relikt. Aber mit Charakter. Allerdings bin ich doch ein wenig enttäuscht!“

Ali entwendete währenddessen mit bemerkenswerter Grobmotorik das Portemonnaie, durchwühlte es, zog die 200 Euro heraus, die der unfreiwillig edle Spender vor seinem misslungenen Date vorsichtshalber eingesteckt hatte.

„Guck mal, Jack – der hat’n Monatsabo vom Döner-King!“

„Aha! Kulturmensch also. Wunderbar.“

Jack zwinkerte Mustapha zu.

„Wussten Sie, dass die Osmanen eine der großen zivilisatorischen Küchen hervorgebracht haben? Ich selbst bin ein Liebhaber des Lammfleischs. Allerdings bevorzuge ich die gehobene Gastronomie, aber über Geschmack lässt sich ja trefflich streiten. Ali, mein Lieber, wieviel spendet denn unser Wohltäter eigentlich?“

„Öh, 200 Tacken! Den hät ich ja auch sonst abgestochen wie ne Wutz!“

„Nicht so grob, mein Bester, ich denke, das ist schon ein konstruktiver Anfang! Vermutlich möchte unser Schutzbefohlener ebenfalls seine Kreditkarten für die gute Sache spenden!“

„Das… das ist Diebstahl…“, krächzte der Schutzbefohlene, dessen Stimme sich langsam aufzulösen begann.

Wie konnte das nur sein? Wie konnten sie es wagen? Er gehörte doch zur beamteten Herrenrasse!

„Ach nein. Nein, nein.“

Gentleman Jack legte ihm väterlich den Arm um die Schulter, sodass eine Wolke von exquisitem Aftershave Mustapha umgab.

„Das hier ist… urbane Umverteilung. Ein kleiner Ausgleich der Kräfte. Wir leben schließlich in kapitalistischen Zeiten. Und wer nichts hat, soll wenigstens wissen, wem er’s zu verdanken hat.“

Derweil hatte der Oger seine Inspektion des Portemonnaies beendet.

„Die Pussy hat nur nen Perso!“

Mit gespieltem Bedauern schüttelte der Gentleman unter den Straßenräubern sein gepflegtes Haupt!

„Ach, die Beamtenschaft ist auch nicht mehr das, was sie einmal war. Ich hätte zumindest so eine proletenhafte VISA-Karte erwartet. Aber gut, der Personalausweis dürfte seine 400 Euro unter Freunden wert sein. Ali, da unser Freund so kooperativ war, lass ihm das Döner-Abo, wir wollen uns ja schließlich nicht den Magen verderben!“

Ali gähnte laut. und ließ die Brieftasche – samt Abo und Organspendeausweis – achtlos fallen.

„Komm, Jack. Ich will noch’n Steak Luxus-High-End-Restaurant im Eserner Nobelviertel.“

„Geduld, mein kleiner Polyphem. Der Herr hier hat uns doch soeben mit einer reichlichen Spende bedacht.“

Das würden diese elenden Gangster bereuen! Er diese asozialen Elemente umgehend anzeigen.

Trotz dieser eher rabiaten Gedankengänge schwieg der potentielle Anzeigenkönig mit gewöhnlicher Mutlosigkeit.

Gentleman Jack entfernte sich zwei Schritte, dann drehte er sich noch einmal um und verbeugte sich in gewohnt eleganter Manier.
„Ich danke Ihnen, mein Lieber. Für Ihre Aufmerksamkeit, Ihre Spendenfreude – und vor allem für Ihre Würde. Die haben Sie behalten. Das macht nicht jeder. Wirklich bewundernswert. Falls Sie gelegentlich die Ordnungskräfte aufsuchen sollten, grüßen Sie herzlich Oberkommissar Capone von mir, er möge meinem Paten, dem Polizei-präsidenten Fouché, mitteilen, dass Ali wie gewohnt seinen Anteil an den Spenden am nächsten Mittwoch bringen wird.“

Er zog den imaginären Hut noch einmal, während Ali eine letzte Geste Richtung Mustapha machte, die irgendwo zwischen einem Gruß, einer Drohung und einem Verdauungsproblem lag.

Dann verschwanden die beiden im Nebel, als gehörten sie nie in die Welt der Lebenden.

Mustapha beschloss unter solchen Voraussetzungen besser auf eine Anzeige zu verzichten, denn schließlich wusste er, wie der Hase lief.

Und so stand er ratlos und verloren da. Ohne Geld. Ohne Handy. Ohne Stolz. Nur mit dem Döner-King-Abo in der Jackentasche. Fünf Stempel hatte er schon und ein sechster würde bald dazukommen – was sollte er sonst tun?

 

Das Wunder im Döner-King

Der „Döner-King“ war kein Ort, an dem man aß, weil man hungrig war. Man kam, weil einen das Leben bereits halb verdaut und wieder ausgespuckt hatte. Eine neonflackernde Wartehalle auf das Nichts, mit fettigen Aluminiumtischen, deren klebrige Oberfläche einem zu verstehen gab, dass hier weder Hygiene noch Hoffnung je eine Bestellung aufgegeben hatten.

Mustapha Muller drückte die schwergängige Tür auf, begleitet vom krächzenden Quietschen, das klang wie der letzte Atemzug eines Greises, der elendiglich in einem Müllcontainer verblich. Sein Magen knurrte – nicht aus echtem Hunger, sondern um die erlittene Schmach mit gewohnt billiger Sättigung zu kompensieren. Eine Junk-Food-Orgie aus einem metaphysisch mentalen Vakuum heraus. Kostengünstige Völlerei, die er in dem von Gott und sonstigen Kunden verlassenen Laden so richtig ausleben konnte.

Hinter dem Tresen thronte der König des Gammelfleisches, Jens Kippeneuker, ein Mann mit der Hautfarbe von frittiertem Pappkarton und dem Blick eines wütenden Mafiosi, dem man zu oft ins Gesicht gelogen hatte. Der Archetyp eines gierig betrügerischen Imbissbesitzers wischte lustlos mit einem Lappen über einen Grill, der seit den 90ern nicht mehr vollständig gereinigt worden war. Neben ihm stand Sabine, die blonde Hohepriesterin ranzigen Fettes. Von recht anmutiger Statur und mit dem Charme einer erfahrenen, aber nicht zu teuren Kurtisane ausgestattet, sollte sie im Dienste des listigen Kippeneuker die männliche Kundschaft zum Verzehr diverser ‚Leckereien‘ animieren. Ihr tief ausgeschnittenes Top lenkte von ihrer momentanen, schlechten Laune ab, zumindest für jene wenigen männlichen Gäste, vor denen selbst sie einen gewissen Ekel empfand – Mustapha war in dieser Hinsicht der absolute Spitzenreiter.

„Einmal Dönerteller mit allem“, nuschelte Mustapha, wie gewöhnlich die Kellnerin mit gierigen Augen förmlich ausziehend.

Sabine warf ihm einen Blick zu, der irgendwo zwischen Mitleid und Ekel pendelte.

„Mit allem? Auch mit extra Soße?“

„Ja… besonders viel Soße. Ich brauche heute eine Geschmacksexplosion.“
Sabine zuckte mit den Schultern.

„Wie du willst, Schätzchen. Vielleicht explodierst Du ja heute tatsächlich, wäre ja nicht schade drum!“

„Wie bitte?“

Mustapha sah die wenig freundliche Servicekraft verwirrt an. Jedoch bewog ein finsterer Blick ihres Chefs, der einem Killer vermutlich das Fürchten lehrte, Sabine dazu, auf eine Antwort zu verzichten. Der pseudo-hungrige Beamte jedoch, hatte die Worte trotz der Frage zwar deutlich vernommen, nahm aber nun an, sich verhört zu haben, da sein kleinbürgerliches Weltbild die Vorstellung nicht zuließ, dass eine Imbissbudenbedienung es wagen würde, solch impertinente Worte an ihn zu richten.

Mit dem pappigen Dönerteller in der Hand ließ sich Mustapha auf einen der versifften Sitze fallen. Der Fernseher an der Wand rauschte leise mit dröhnender Stupidität– eine dieser leicht debilen Gameshows lief, in der ein mäßig begabter Joker moderierend Volksbelustigung für geistig Arme betrieb.

Da sprach jemand:

„Ich empfehle dazu Ayran. Bringt den Magen zum Weinen, aber die Seele zum Singen.“

Mustapha zuckte zusammen, sich fragend, wer es wagte, seinen billigen Genuss verbal zu stören? Er hatte den Mann gar nicht bemerkt, der ihm da gegenübersaß. Unauffällig. Durchschnittlich. Kein Geruch. Keine Präsenz. Und doch – ein seltsames Flirren in der Luft um ihn herum, als wäre die Realität selbst für einen Moment unscharf geworden.

„Sie sehen aus wie jemand, der nicht allzu viel Freude an seiner Existenz hat!“, sagte der Fremde und rührte gemächlich in einem Becher mit einem undefinierbaren Brei, von dem man unmöglich sagen konnte, ob Kippeneuker den als Kaffee, Tee oder sonst etwas verscherbelte.

„Wie bitte? Natürlich habe ich Freude – meistens jedenfalls! Ich bin Mustapha Muller, Beamter im Staatsdienst!“, sagte Mustapha und erwartete, dass sein Statement Erklärung genug war und der lästige Fragesteller nun vor Ehrfurcht erstarren möge.

„Gerade deshalb“, antwortete der Mann, „haben Sie vielleicht mehr Potenzial, als Sie glauben.“

Mustapha spukte die gummiartige Fleischmasse in seinem Mund fast aus und beäugte seinen Gegenüber misstrauisch.

„Sind Sie... Hobby-Therapeut oder sowas?“

„Ich bin ein Konstrukt der raumzeitlichen Metaebene.“

„Was?“
„Ein Anomalie. Ein Fehler. Oder vielleicht ein Impuls im Quellcode des Kosmos, der sich tief verborgen hinter der Ebene der Elementarteilchen befindet. Jemandem schwer zu erklären, der keine nobelpreiswürdigen Physikkenntnisse besitzt. Ich... erscheine, hier, überall und nirgendwo. Falls es Ihnen hilft, können sie mich auch Demiurg nennen!“

Mustapha erstarrte in seinem kulinarischen Treiben.

Sollte er jetzt laut lachen? War das Ganze ein geschmackloser Scherz? Demiurg, was war das denn für ein Name; vielleicht russisch? Dieser Mensch sah nicht so aus, als würde er Witze machen. Oh Gott, ein Irrer! Solche Typen gab es in Gelsum im Sechserpack. Am besten, man machte hier gute Miene zum wahnsinnigen Spiel, denn man wusste ja nie, wie gefährlich diese kranken Kerle letztendlich waren.

„Sehr interessant, aber ich glaube, ich sollte jetzt gehen, da ich noch einen wichtigen Termin im Büro habe!“

Bevor jedoch der bei seinem köstlichen Fraß so unsanft gestörte, bildungsferne Staatsdiener sich erheben konnte, fuhr der Fremde fort.

 „Ich mache Ihnen ein Angebot, Mustapha Muller. Fünf Jahre lang gelingt Ihnen alles. Ihre Pläne, Ihre Sehnsüchte, Ihre Ambitionen – alles. Aber danach... wird es kein Leid, keinen Zweifel, keine Trauer mehr geben. Sie werden nur noch Fröhlichkeit empfinden. Dauerhaft. Bedingungslos. Ein Leben im Zustand der ewigen Glückseligkeit.“

Gott, ist der Typ durchgeknallt! Am besten, man reizt ihn nicht! Wenn man auf sein Angebot eingeht, verschwindet der vielleicht. Aber ich sollte subtil vorgehen!

Nach solchen von Vorsicht geprägten Gedanken, legte Mustapha schweren Herzens seine Gabel ab.

„Und der Haken?“

„Das war der Haken.“

„Also... ich kann nicht mehr traurig sein? Klingt doch super.“
„Auch nicht mehr wütend. Oder tief bewegt. Oder melancholisch. Nur Glück. Reines, konturloses Glück.“

Mustapha starrte auf die fette Pfütze in seinem Styroporbehälter. Dann zurück zum Fremden.

„Sind Sie von irgendwie von einer Sekte oder sowas? Geben Sie mir einfach die Adresse der Kirche oder so Ihrer Glaubensgemeinschaft und ich suche Sie morgen gerne auf.“

Der Mann lächelte. „Sagen wir... ich arbeite im Dienste der Chaostheorie.“

Ein verrückter Linksextremist! Naja, besser als ein Rechter, da sollte man einfach zustimmen, denn solche Typen verstehen keinen Spaß!

Mustapha lehnte sich zurück, lachte kurz auf, ein glucksendes, erschöpftes Lachen.

„Ich nehme Ihr Angebot natürlich mit Vergnügen an, wenn es unserer Demokratie hilft!“

Der Mann stand auf, zog sich den Mantel über, obwohl er nie einen angehabt hatte, und nickte höflich.

„Unserer Demokratie? Sei es drum, also abgemacht. Mögen die Spiele beginnen!“

Dann war er fort. Nicht gegangen. Nicht verschwunden. Fort.

Sabine warf ihm einen ungewöhnlich interessierten Blick zu.

„Führst Du neuerdings Selbstgespräche, mein Großer?“

Mustapha grinste schief.

„Nee Darling, ich habe doch gerade mit diesem komischen Typen da geredet!“

„Da war aber niemand! Ist nicht schlimm Schätzchen, ich plappere auch gelegentlich vor mich hin!“

Mit äußerster Verwunderung registrierte Mustapha die unerwartete Freundlichkeit der begehrten Servicekraft und war sich nun sicher, halluziniert zu haben – vermutlich eine Nachwirkung des Überfalls!

Kurze Zeit später hatte unser Gourmet der besonderen Art den letzten Bissen des Döners zwischen seine ungepflegten Zähne zermalmt und registrierte nach vollendetem Mahl langsam, dass sich irgendetwas anders war. Während der verbeamtete Stammkunde eher an eine der manchmal unangenehmen Folgen nach dem Genuss einiger von Kippeneukers antiker Feinkost dachte, handelte es sich lediglich um eine winzige Veränderung im Raum-Zeit-Kontinuum - eine minimale Verschiebung, kaum spürbar, und doch epochal.

 

Die Burlesque beginnt

Sabine, die blonde Fritteusen-Nymphe, stand noch immer mit verschränkten Armen hinter dem Tresen, betrachte jedoch Mustapha, dessen paläolithische Essmanieren bei der abgebrühten Servicekraft gewöhnlich Abscheu und Ekel auslösten, mit freundlicher Verwirrung. Sabines Stirn kräuselte sich, als stünde sie unter innerem Zwang. Die Art, wie ein Magnet auf ein Stück Metall wirkt, das lieber weit weggeblieben wäre.

Draußen begann es zu regnen. Natürlich. In Gelsum regnete es immer dann, wenn ein neuer Irrsinn geboren wurde.

„Sag mal… Mustapha, oder?“, fragte sie, als hätte sie seinen Namen aus einem drittklassigen Krimi aufgeschnappt.

Er schluckte überrascht, schnäuzte sich in eine Serviette, die mehr Fett als Papier war.

 „Äh... ja?“

„Lust auf’n... Kaffee? Oder was Stärkeres. Bei mir. Ich wohn um die Ecke.“

Kippeneuker, der hinter der Theke gerade einen gefrorenen Lahmacun auf den Grill geschmettert hatte, hielt verwirrt mitten in der Bewegung inne. Der gefrorene Fladen dampfte trotzig, während sein Besitzer blinzelnd auf Sabine starrte, als hätte sie gerade in Altgriechisch um die Hand seines Erstgeborenen angehalten.

„Was zum Henker...?“, flüsterte Jens, so leise, dass selbst der Grill es kaum hörte.

Mustapha aber strahlte wie die Sonne an einem heißen Sommertag. Strahlte so selig, dass selbst ein halbverhungerter Golden Retriever neben einem Steak verblasst wäre. Sabine? Die Sabine? Die Göttin des gläsernen Joghurtspenders, der Jackpot, der unheilige Gral seiner feuchten Träume? Die unwiderstehliche Helena maroder Imbissstuben?

Er stand auf, rieb sich ungläubig das Kinn. In seinem Kopf hallte es wie in einer Bahnhofstoilette.

Endlich erkennt sie, was für ein Kerl ich bin. Meine Geduld, mein Charme, mein animalischer Magnetismus... es hat gefruchtet!

„Ich wusste es. Irgendwann würdest du merken...“, begann er, doch Sabine winkte ab.

„Ach, halt den Rand. Komm einfach mit. Ich will... keine Ahnung. Reden, kuscheln oder sowas.“

Ihre Stimme war eigenartig matt, wie ferngesteuert. Auch sie verstand nicht, was da gerade mit ihr geschah – und ahnte nur, dass es gegen jeden ihrer femininen Instinkte oder der banalen Vernunft war.

Kippeneuker stand immer noch da, mit offenem Mund.

„Aber... du hast doch gestern noch gesagt, er ist wie... wie ein geplatztes Currywurstgedärm in Menschengestalt! Und wenn der schmierige Typ der letzte Mann auf Erden wäre, würdest Du ihn nicht mit Der Kneifzange anfassen!“
Sabine zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht steh ich auf Innereien. Ich geh jetzt und nehme unbezahlten Urlaub.“

„Spinnst Du, nein! Ich meine, natürlich kannst Du gehen, ich zahle auch den Verdienstausfall!“

Der im Normalfall eher Ebenezer Scrooge ähnelnde Arbeitgeber, konnte nicht glauben, welche Worte soeben seinen mit fauligen Zahnstummeln gefüllten Mund verlassen hatten. Verwirrt starrte er Sabine an, die die Stätte ihres Wirkens wortlos verließ, unfähig sich weiter zu artikulieren.

Und Mustapha – der große Casanova mit dem Charme einer leeren Bierflasche – marschierte mit dem Selbstbewusstsein eines römischen Cäsaren hinter ihr her. Sein Gang war verändert: weniger schleppend, mehr... heroisch. Jedenfalls dachte er das, während dem unvoreingenommenen Beobachter seine watschelnden Bewegungen höchstwahrscheinlich eher an einen liebeskranken Kobold erinnert hätten, der vor Kraft kaum zu gehen vermochte.

Als die Tür des Döner-Kings hinter ihm zufiel, blieb Jens Kippeneuker, der sich und die Welt nicht mehr verstand, reglos zurück. Nur der lahme Fladen auf dem Grill zischte noch trotzig weiter – der letzte Zeuge eines metaphysischen Wunders, das die Logik dieser Welt eben vergewaltigt hatte.

Und draußen im Nieselregen: Gelsum. Trüb, verwahrlost, ein Spielplatz zerbrochener Hoffnungen. Doch bereit für einen grotesken Alptraum verrückter Götter, der nun Realität wurde.

 

Die Zeit läuft ab

Fünf Jahre. Fünf erbärmliche, absurde, unverdiente Jahre.

Und doch: Der Mann, der einst im „Döner-King“ fetttriefendes Junkfood wie göttliche Speisen eines Gourmettempels in sich hineinstopfte, saß jetzt auf einem Thron aus Chrom, Marmor und feinster Seidenpolsterung. Der Regierungspalast – eine neobarocke Geschmackskatastrophe, halb Einkaufszentrum, halb Raumschiff – trug seinen Namen: "Mustapha-Muller-Zentrum für Globale Erleuchtung".

Draußen, auf den Plätzen der Republik, tanzten Kinder in Uniformen mit seinem Konterfei auf der Brust. Männer mit Tränen in den Augen küssen seine offiziellen Schuhimitate im Souvenirshop und unzählige Frauen wünschten sich eine üppige Nachkommenschaft von ihm. Radio-moderatoren flüsterten ehrfürchtig seinen Namen, bevor sie Werbung für sein Parfüm machen: "Mustapha – Der Duft des Erfolgs." Einst kritische Journalisten verfassten Panegyriken auf ihn, die selbst die größten Schmeichler Nero selig vor Scham hätten erröten lassen – eben so wie gewisse ‚Haltungsjournalisten‘ so sind.

Im Inneren seines gewaltigen Büros, zwischen einem goldenen Aquarium voller fluoreszierender Mini-Kois und Hologramme seines übergroßen, recht idealisierten Selbst an den blattgoldverzierten Wänden, saß er:  Seine Gnaden Mustapha Muller, Präsident auf Lebenszeit, Vater des Vater-landes, Vorsitzender der ÖAVU – der Ökologisch Alternativen Volksfront Union.

Die Partei für eine saubere Umwelt und eine schmutzige Wahrheit gegen Ausbeutung. So lautete der neue Slogan, den Mustapha selbst in einem Anfall von ideologischer Eingebung erfunden hatte. Niemand verstand so richtig den Sinn des Spruches, am wenigsten dessen Erfinder selbst, aber alle fanden ihn revolutionär.

Vor dem Fenster züngelten Drohnenschwärme am Himmel, formten sein Gesicht in Licht. Drinnen aber herrschte trügerische Ruhe.

Mustapha saß in seinem ergonomischen Regierungssessel, die Füße auf einem goldbesetzten Tisch. In der Hand: ein Glas laktosefreier Imperial-Champagner aus ökologisch abgebauten Andengletschern, deren Eis von fleißigen Kindern zum Dumpingpreis abgebaut wurde.

Sein Blick war wie üblich sinnentleert. Nicht melancholisch – dazu war er gar nicht mehr fähig. Sondern einfach: leer. Der die Reflektion des inneren Vakuums eines Mannes, der alles gewonnen hatte, ohne zu wissen, wie. Der alles bekam, ohne zu fragen. Der alles war, was er aufgrund seiner Fähigkeiten nie sein konnte.

„Wie gut ich das alles durchdacht habe...“, murmelte er zufrieden, während seine Gedanken in bizarren Kaskaden durch sein Bewusstsein trieben. „Visionär und schlau war ich schon immer…“

Er erinnerte sich nicht mehr richtig an den Abend im Döner-King. Nicht an den seltsamen Fremden. Nicht an das Angebot, das er einst als Hirngespinst abgetan hatte. Diese seltsame Unterhaltung, die irgendwo zwischen den letzten Dönerresten und Sabines plötzlicher Libido verschwunden war.

Stattdessen glaubte er felsenfest an sich selbst. An seinen unbestrittenen, absolut verdienten Aufstieg. Seine Genialität. Seine Fähigkeit, Frauen, Parteien, Staaten und die globale Ökonomie mit grotesk absurden Plänen, hirnfurzigen Sprüchen und dem Charisma eines defekten Holzhammers in seinem Sinne zu manipulieren.

Seine Feinde? Die waren erledigt, so saß sein ehemaliger Chef Bully wegen Insubordination lebenslang im Knast. Einzig Gentleman Jack und Ali entgingen seinem vom Universum promoteten Rachefeldzug – unauffindbar, so hieß es!

Seine Frau, Cleopatra Septima Lagos, ein Hollywoodstar dessen Attraktivität und Charme zahllose Männer in ihren Bann schlug, hatte ihm am Morgen erneut ihre bedingungslose Liebe erklärt. Mit glasigem Blick und einem seltsamen Zittern in der Stimme. Die vermutlich berühmteste Schauspielerin auf dem Globus verstand nicht, warum sie ihn liebte – doch sie tat es. Wie eine Puppe im Bann eines Voodoo-Priesters, die der Macht der Magie gegen ihren Willen ausgeliefert war.

Kinder hatte er keine. „Zuviel Verantwortung, Mann“, hatte er irgendwann in einem Interview mit einem servilen Sykophanten von den Öffentlich-Rechtlichen Medien gesagt. „Ich bin doch nicht blöd.“ Die veröffentlichte Meinung applaudierte in frenetischer Begeisterung. Die Welt verstand derartige Jubelgesänge nicht, wie so vieles, was in seinem Land absurder Realitätsverweigerung geschah. Trotzdem stiegen seine Beliebtheitswerte weiter ins Astronomische.

Und jetzt saß er hier. Am Vorabend des fünften Jahrestages jenes merkwürdigen Zusammentreffens mit dem geheimnisvollen Fremden. In wenigen Minuten würde das Experiment des ‚Demiurgen‘ in seine zweite Phase treten. Doch Mustapha wusste davon nichts. In seiner Welt war alles von einem grotesk wahnsinnigen Autopiloten gesteuert – und der Kurs zeigte nach oben.

Draußen begannen die Glocken zu läuten. Keine Kirchenglocken. Sondern die neuronalen Impulsglocken der Hauptstadt – sie läuteten nur für ihn.
Ein neues Zeitalter, so dachte er.

Meine Epoche, die Ära eines neuen Heilands!

Er lachte laut, akustisch ähnlich dem verzweifelten Schrei eines debilen Grautiers.

Irgendwo – weit, weit jenseits der subatomaren Grenzen der Realität – öffnete sich ein Portal, ein Auge. Ein sehr altes, sehr geduldiges, sehr fröhliches Auge. Und dann war es soweit, Mustaphas Zeit lief ab.
Die gleiche Stunde, die gleiche Minute, die gleiche Sekunde und so weiter bis in den nicht messbaren Bereich, bis in die Nichtzeit – die Party war vorbei!

Vibrierend schrie Mustaphas Handy – Modell iMeFirst UltraPro Muller the Great, ein Unikat extra für ihn – auf dem vergoldeten Regierungstisch, von dem es hieß, er habe einst Napoleon Bonaparte gehört. Wer wagte es ihn in seinen medativ egozentrischen Selbstreflektionen zu stören? Es war Cleopatra Septima Lagos, seine ihm hörige Gattin, die Göttin cineastischer und mancher Männerträume. Die Frau, die ihn liebte, wie ein Süchtiger sein Crack.

Er lächelte wie ein Zirkusclown auf LSD, ein alles überlagerndes Gefühl des Glücks und der Fröhlichkeit füllte ihn mit absoluter Unvermeidlichkeit wie einst die eisigen Fluten des Nordatlantiks die Titanic.
„Baby, welche Freude mein Häschen! Was macht die Amerika-Tournee?“
„Ich bin weder Dein Baby noch Dein Häschen, Mustapha!“

Ihre Stimme hatte sich verändert. Kein Hauch von devoter Zuneigung mehr – nur noch Rasierklingen.

„Ich habe genug von Dir! Ich lasse mich scheiden, Mustapha. Und zwar öffentlich. Live. Auf CNN, BBC und TikTok.“

„Hihi“, kicherte Mustapha glücklich. „Na, da bin ich ja gespannt, mein kleiner Sonnenschein, das wird bestimmt ne coole Show!“

„Machst Du erbärmlicher Wicht Dich über mich lustig? Ich habe die Schnauze voll von Deiner Primitivität und Stupidität! Ich weiß nicht, mit welchem Voodoo-Fluch Du mich belegt hast, aber ich bin zur Besinnung gekommen! Meinetwegen kann Dich die halbe Welt für einen Messias halten, aber für mich bist nur ein ekelhafter Ignorant ohne Fähigkeiten irgendeiner Art! Wenn ich an Deine Intimitäten denke, könnte ich mich übergeben!“

Er wollte etwas Passendes sagen, Etwas Drohendes, dass dieses aufrührerische Weib in seine Schranken weisen würde, aber wieder wurde er von einer grotesken Fröhlichkeit übermannt.

„Hihi. Ich liebe es, wenn du wütend bist, das ist sooo süß. Ach, wie freue ich mich auf die Scheidungsshow!“

„Nimmst Du verdammter Bastard mich nicht ernst? Ich lasse Dich hochgehen und wenn es meine Karriere kostet! Glaubst Du ich habe Deine dreckigen Geschäfte nicht mitbekommen? Eigentlich warst Du ja auch zu blöd, irgendetwas vor mir zu verbergen. Wie war das mit den schmutzigen Deals mit der Pharmaindustrie? Der Impfbrühe von der Firma Bayertod, die weltweit tausenden das Leben kostete! Ich mache Dich fertig und wenn es das letzte ist, was ich tue!“

„Baby, da bin ich ja richtig gespannt auf die Nachrichten! Übrigens war der CEO von Bayertod ein richtiger Spaßvogel und hat mir tolle Witze erzählt, als er mir meine Provision übergab. Kennst Du den mit der Filmschauspielerin und dem Kamel?“

Nach einem Schrei äußerster Wut, einer unheilverkündenden Banshee gleich, legte die Filmschauspielerin auf.

Mustapha lachte ausgelassen auf, hate aber keine Zeit, sein Mobiltelefon abzulegen, da direkt der nächste Anruf nach seiner Aufmerksamkeit schrie. Freudig bemerkte er, dass es sich beim nächsten, potentiellen Gesprächspartner um seinen Lieblingsneffen, Anusius Heinrichs, handelte. Sein ihm intellektuell leicht unterlegenen Verwandter, war durch die Gunst seines Onkels inzwischen CEO der milliardenschweren Miracle Investment Partnership, deren Inhaber natürlich Mustapha war.  

Von Glücksgefühlen förmlich geschüttelt, nahm der Milliardär den Anruf entgegen, kam aber nicht dazu, sich zu melden, sondern wurde direkt vom hysterischen Gekreische seines Neffen überwältigt.

„Onkel! Onkel!! Ich… ich glaube, wir sind am Arsch, komplett am Arsch!! Die Börsen sind eingebrochen, unser Stablecoin ist instabil, unsere Immobilienprojekte in Kasachstan stehen unter Wasser… wortwörtlich… und äh…unsere IT-Investments sind völlig wertlos! Die Frauding Scamming Ltd., in die wir die Hälfte unseres Kapitals investierten ist plötzlich insolvent. Was soll ich nur tun?“

Mustapha lachte herzlich, sich hinsichtlich der überschlagenden Stimme seine interfamiliären CEOs prächtig amüsierend!

„Ach, was bist Du nur für ein Witzbold! Du übertreibst, es ist doch nur Geld und Glück kann man nicht kaufen.“

„Onkel, wir haben vierzig Milliarden verloren in 20 Minuten! Wenn das so weitergeht sind wir in wenigen Tagen pleite!“

Ein Gefühl göttlicher Wonne durchströmte den Noch-Milliardär.

„Ich fühl mich heute so fantastisch wie noch nie! Was hältst Du davon, wenn Du mich heute Abend in die Comedia del Arte begleitest? Aber ich vergaß, Du bist ja nicht gerade die hellste Birne im Kronleuchter: Sehen wir uns doch zusammen einen Disneyfilm an!“

„Nicht die hellste Birne? Ich fürchte, mein lieber Onkel, ich muss aus gesundheitlichen Gründen kündigen und mich auf die Malediven zurückziehen. Um meine Abfindung kümmere ich mich selbst, bevor alles weg ist!“

„Die Malediven sollen ja wundervoll um diese Jahreszeit sein! Nimm Dir doch so viel Geld, wie Du willst!“

Click.

Der ehemaliger CEO hatte das Gespräch beendet, während Mustapha noch immer breit grinste.

Mit einem wohligen Gefühl der Glückseligkeit, das mit dem eines fanatischen Predigers beim Anblick der Himmlischen Heerscharen vergleichbar war, stand der Präsident auf Lebenszeit auf, ging ans Fenster und kicherte fröhlich. Draußen – Rauch. Tumult. Plakate.

„MUSTAWAY – DAS LAND GEHÖRT UNS!“

„ÖAVU = Öffentliches Arschloch-Verwaltungs-Unternehmen“

„VERDUMMT DURCH VERHEERUNG – RÜCKTRITT!“

Ein Sekretär in einer grotesken Livree -Mustaphas eigenes Design - stürmte hinein. Er war kreidebleich und wirkte wie ein Aristokrat, den man zu Zeiten der Französischen Revolution zum ‚Nationalen Rasiermesser‘ führte.

„Eure Gnaden! Die Untertanen… sie wagen es… sie… demonstrieren! Spontan! Landesweit! Wir können die Server nicht mehr kontrollieren, die Zensur versagt total! Selbst Ihre Unterstützungs-Bots haben sich abgewendet und… posten Memes gegen Sie!“

„Oh, herrlich!“, jauchzte Mustapha und schlug sich auf die Oberschenkel. „Ist der Pöbel nicht drollig! Mein Herz hüpft, ich lache mich tot! Mein Magen kichert! Demonstrieren? Wie neulich für meine Edikte hinsichtlich der Einführung der 80 Stundenwoche und einer Einkommenssteuer von 90%? Ach ist das alles lustig!“

„Herr Präsident, uns steht eine Revolution bevor! Polizei und Militär sind ebenfalls kurz davor, zu revoltieren. Sie werden uns von der Erde tilgen oder schlimmer: Wir verlieren unsere Privilegien und Posten!“

„Ach Gottchen und wenn schon! Ich lasse mir meine Laune nicht vermiesen. Haha. Sie wären bestimmt ein ausgezeichneter Straßenfeger oder Latrinenwärter, wenn die uns aus dem Amt jagen!“

Der Sekretär entsetzt wich zurück. So etwas wie Ekel und Furcht stand in seinem Gesicht, aber Mustapha bemerkte nichts davon. Er war zu beschäftigt mit seiner inneren Supernova der Heiterkeit. Jeder Nerv seines Körpers brummte in wohliger Wonne.

Sein Blick fiel auf ein Portrait an der Wand: Mustapha, wie er einem Kind ein Windrad schenkt.  

Inszeniert. Falsch. Aber nun voller Bedeutung.

Er lächelte das Bild an. Dann ließ er sich wieder auf seinen Sessel plumpsen.

Ein Moment der Ruhe.

Dann, ganz leise, ein Gedanke. Klein. Ungeladen. Und doch: ein Splitter in der makellosen Fröhlichkeit.

„Warte mal… das ist doch irgendwie… seltsam, oder?“

Es war kein richtiger Zweifel. Eher ein leiser Husten im Hirn. Eine Rückkopplung. Aber sie war da.

Mustapha lächelte, während die Wirtschaft zusammenbrach.

Mustapha lachte ausgelassen, als das Land im Chaos versank.

Mustapha dachte: „Hihi.“, als das Militär putschte und er in der Psychiatrie landete.

 

Das letzte Experiment

Die Luft roch nach Desinfektionsmittel, altem Urin und einer Art Hoffnungslosigkeit, die sich wie Schimmel an die Decke geklammert hatte. Raum 23 – geschlossene Abteilung, Trakt IV in der neugegründeten psychiatrischen Anstalt für querulatorische Persönlichkeitsstörungen war ein Ort gleich einem Höllenkreis aus Dantes Göttlicher Komödie. Hier wohnten die Verlorenen, die Überzähligen, die Fehler im Text und jene, die es wagten Generalissimus Godunow in irgendeiner Weise zu kritisieren; und als prominentester ‚Patient‘ Mustapha Muller.

Dieser vermutlich nach dem Diktator meistgehasste Mann im Land und ehemaliger Präsident auf Lebenszeit landete schließlich nach dem Militärputsch in besagter Anstalt. Das lag nicht zuletzt angesichts seines ungewöhnlichen Verhaltens während der ’Demokratischen Unruhen‘, die von den Streitkräften unter ihrem charismatischen Chef Godunow äußerst brutal niedergeschlagen wurden. Allerdings glaubte man in informierten Kreisen zu wissen, dass der Generalissimus mit der Unterbringung seines ehemaligen Herrn, dem er aus unerklärlich erklärbaren Gründen geraume Zeit in hündischer Treue ergeben war, in der Psychiatrie sich einerseits rächen und andererseits seine unange-fochtene Macht beweisen wollte.

Das Grauen aller internierten Insassen, Klinikchef Prof. Dr. Joseph Frankenstein, behandelte persönlich seinen Fall. Der berüchtigte Psychiater genoss einen gewissen Ruf hinsichtlich seiner an mittelalterlichen Inquisitoren gemahnenden Therapien und dem Hang zu kuriosen Experimenten mit fatalem Ausgang. Allerdings trieb ihn Mustaphas Fall allmählich selbst in einen ärgeren Wahnsinn, als der sowieso bei ihm gegeben war. Während der gänzlich in schwarz gekleidete Klinikchef bei seinen bedauernswerten Schutzbefohlenen gewöhnlich Angst und Entsetzen auslöste, stieß er bei Mustapha nur auf Heiterkeit. Nur die Furcht vor dem Militärdiktator hielt Frankenstein davon ab, mit dem ehemaligen Präsidenten im Rahmen eines seiner Experimente ‚Schluss zu machen‘.  

Derweil saß Mustapha auf einem schäbigen Bett, das mehr über ihn wusste als seine Mutter. Trug einen schlaffen Krankenhauspyjama und grinste vergnügt in die Leere, die Melodie eines populären, aber grottenschlechten Popsongs.

Dann – ein Klopfen.

Dreimal. Höflich. Unangebracht höflich.

In dieser Abteilung wurde nicht geklopft. Die schwarzuniformierten Aufseher mit den roten Armbinden stürmten brüllend herein, um die Patienten mit ihren Gummiknüppeln zu sedieren oder ihnen brutal manchmal letale Mittel zu injizieren.

Die Tür öffnete sich, und ein Mann trat ein, der aussah wie eine zu glatt gerenderte Erinnerung. Jeans. T-Shirt. „I <3 Quantum Paradox“.

Fröhlich lächelte der Patient seinen Wohltäter aus dem Döner-King, dessen Existenz schon lange in seinen Erinnerungen verblasst war, an.

„Ah ein neuer Seelenklempner! Sind sie gekommen, um mich zu lobotomieren, wie Dr. Frankenstein hysterisch kreischend bei der letzten Sitzung so witzig bemerkte?“

Mustapha lachte ausgelassen, als hätte er einen köstlichen Scherz erzählt.
„Keineswegs, mein Lieber, aber Du erkennst mich wohl nicht? Vielleicht redest Du ja lieber mit der Gestalt, die ich bei Deiner Auswahl annahm!“

Zum Vergnügen des Auserwählten verwandelte sich der Neuan-kömmling in eine Person, an die sich sehr wohl erinnerte.

„Hihi, das ist ja ‚Gentleman Jack‘! Wo haben Du und Dein lustiger Kamerad nur die ganze Zeit gesteckt? Was bringt Dich denn zu mir?“

 „Ali befindet sich in dem Paralleluniversum, aus dem ich ihn einst holte. Um Deine letzte Frage zu beantworten: Ich bin hier, um diese Phase des Experiments zu beenden. Dafür schalte ich Dich jetzt wieder auf ‚normal‘. So sei die Zeit der Freude vorbei!“

Ein surrendes Flackern, ein kurzes Zucken in Mustaphas Stirn – und die Erinnerung kam zurück wie eine Abrissbirne im Schädel.

Die fünf Jahre.

Die lächerliche Macht.

Die unverdiente Liebe.

Der totale Absturz.

Und das alles durchtränkt von dieser obszönen, unausweichlichen Fröhlichkeit.

Mustapha krümmte sich, schluchzte wie ein kleines Kind, das erfährt, dass der Weihnachtsmann vom Christkindchen abgemurkst wurde.

„Ich… warum ich… GOTT! Das habe ich nicht verdient!“, wimmerte er.
„Ich fürchte leider doch!“, sagte die Entität mit der vollendeten Höflichkeit des Gentlemans, „Aber das spielt keine wirkliche Rolle, Du warst zwar kein originelles, aber nützliches Studienobjekt! Aber schließen wir die Versuchsreihe ab! Ich mache Dir ein letztes Angebot: Ich verändere die Raumzeit wiederum, alles wird rückgängig. Alles vergessen. Du – wieder klein. Wieder bedeutungslos.“

Mustapha schlug mit der Faust auf das Linoleumbett.

„Ja! Nimm es weg! Ich kann nicht mehr!“

So setzte Gentleman Jack den kosmischen Taschenrechner zurück.

Dann: Licht und Schweigen.

 

Ein Epilog

Der Grill zischte. Der Fernseher blubberte stumpfe Bilder. Ein Stück Paprika fiel in die Fritteuse starb mit einem letzten Blubbs und Kippeneuker stieß einen leisen Fluch aus.

Mustapha saß als einziger Kunde auf seinem wenig sauberen Plastikstuhl. Sein Gesicht eingefroren in einer Art kretinem Fatalismus. Vor ihm ein Teller mit labbrigem Fleisch, das wahrscheinlich nie ein Tier gewesen war. Er fraß. Kaute. Schluckte.

Dann: ein kurzes Zucken.

Etwas zog durch seinen Schädel – eine Ahnung, eine vergessene Symphonie auf einer anderen Ebene der Realität, ein Echo von Glanz. Ein Schatten aus einer Zukunft die war, aber nie kommen sollte.

Der verwegene Schlemmer schüttelte sein unweises Haupt, während Sabine ihn vom Tresen aus einen Blick zuwarf, der Abscheu und Hohn zugleich ausdrückte.

 „Schätzchen, Du siehst aus, als hättest du ne extreme Form von Hirnerweichung! Oder verlierst Du Dich tatsächlich in unerreichbare Tagträume?“

Selbst der gestrenge Kippeneuker, dem Mustaphas sexuelle Begierden hinsichtlich Sabine durchaus bewusst waren, konnte sich eines hämischen Lachens nicht enthalten.

Mustapha schwieg wie gewöhnlich und schob sich das letzte Stück Döner schmatzend in den Mund.

Und draußen begann es zu regnen.

© 2025 Q.A.Juyub alias Aldhar Ibn Beju


 

 


 

 

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